Verbände: Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie muss ehrgeizig umgesetzt und weiterentwickelt werden!

Gemeinsame Stellungnahme von zehn Netzwerken und Dachverbänden aus den Bereichen Soziales, Frieden, Umwelt und Entwicklung zur Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie: DNS_Stellungnahme_2017_02032017 (pdf, 229 kb), März 2017

Verbände

 

 

 

Ein Anfang, der nach mehr verlangt:
Die Nachhaltigkeitsstrategie muss ehrgeizig umgesetzt und weiterentwickelt werden!

EINLEITUNG

Die Bundesregierung hat am 11. Januar 2017 die Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2016 (DNS) beschlossen. Damit will sie die Grundlage zur systematischen Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung legen, wie sie durch die Vereinten Nationen (VN) im September 2015 beschlossen wurde. Die Strukturierung der DNS gemäß den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der VN (Sustainable Development Goals, SDG) zeigt, dass die Strategie eine wichtige Rolle in der Umsetzung der Agenda 2030 spielen kann und sendet ein Signal an andere Staaten, dass eine Umsetzung aller SDG in nationale Politik möglich ist.

Wir, zivilgesellschaftliche Verbände, Dachverbände und Netzwerke, haben uns an der Konsultationsphase zum Entwurf der Strategie intensiv beteiligt und sehen sie als ein wichtiges Steuerungselement. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung den Maßnahmenteil so strukturiert hat, dass erkennbar wird, welche Maßnahmen in, mit und durch Deutschland durchgeführt werden.

Ob die Nachhaltigkeitsstrategie jedoch ausreichenden Schub für eine sozial-ökologische Transformation entwickeln kann, muss sich zeigen. Denn noch immer bleibt die zukünftige Umsetzung der genannten Ziele und Maßnahmen unkonkret und oft unverbindlich. Zudem werden die großen Herausforderungen für mehr nachhaltige Politik kaum angetastet. Im Lichte der globalen und nationalen Probleme wie Klimawandel, Ungleichheit und Armut sowie fehlender Geschlechtergerechtigkeit und -gleichstellung, die auf dem Weg zu nachhaltiger Entwicklung überwunden werden müssen, kann die Strategie eine Wegmarke, aber längst noch nicht das Ziel sein.

An mehreren Stellen hat die Bundesregierung unsere Verbesserungsvorschläge aufgegriffen. So begrüßen wir ausdrücklich, dass die Managementregeln aktualisiert wurden. Wir betrachten die Nachhaltigkeitsstrategie als „Work in Progress“ und begrüßen, dass eine erneute Überarbeitung der Ziele und eine Ergänzung durch neue Indikatoren bereits für das Jahr 2018 geplant sind.

WIRTSCHAFTSWACHSTUM WIRD NICHT HINTERFRAGT

Zu Recht bekennt sich die Regierung zur internationalen Verantwortung, d. h. auch dazu, „…[durch] unser Handeln verursachte Lasten in anderen Teilen der Welt zu berücksichtigen“.1 Die größte Herausforderung bei der Ausrichtung auf nachhaltige Entwicklung bleibt allerdings weiterhin unangetastet: Die Bundesregierung hält am derzeitigen rein auf quantitativem Wachstum basierenden Wirtschaftsmodell fest. Gerade aber unser Lebensstil und Wirtschaftssystem führen zu zahlreichen sozialen, ökologischen und ökonomischen Problemen in Deutschland wie auch in anderen Ländern und Gesellschaften. Unser Wirtschaftsmodell zerstört die Lebensgrundlage vieler Menschen, die so teilweise in Flucht oder bewaffnete Konflikte getrieben werden. Eine kritische, konkrete und lösungsorientierte Auseinandersetzung über den notwendigen Wandel unseres Wirtschaftsmodells und über die Rolle Deutschlands zeigt sich in der Strategie nicht, sie wird auch nicht angeregt.

Die Bundesregierung vermeidet eine politische Öffnung hin zu einem konkreten Richtungswechsel für mehr Nachhaltigkeit in zentralen Politikfeldern wie Landwirtschaft, Verkehr, Flächen- und Ressourcenverbrauch, Energie, Handel und Finanzmarkt. Damit wird Nachhaltigkeit zum technokratischen Begriff ohne sozial-ökologische Substanz. In der Strategie fehlen Bezüge zu Suffizienz, stattdessen ist sie von einem einseitigen Blick auf technischen Fortschritt und Effizienz geprägt. Um nachhaltiges Wirtschaften effektiv zu erreichen, braucht es verbindliche Rahmenbedingungen. Entsprechend sollte sich die Bundesregierung beispielsweise dafür einsetzen, dass die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die im Juni 2011 vom VN-Menschenrechtsrat verabschiedet wurden, durch ein rechtsverbindliches internationales Instrument ergänzt werden.

MASSNAHMEN FÜR MEHR KOHÄRENZ NOTWENDIG

Es ist erfreulich, dass zwei von der Zivilgesellschaft geforderte Instrumente zur Schaffung von mehr Kohärenz Eingang in die Nachhaltigkeitsstrategie gefunden haben: Die Ressortbeauftragten für nachhaltige Entwicklung sowie die Kohärenzberichte der Ressorts. Es besteht die Hoffnung, dass die Ressortbeauftragten für nachhaltige Entwicklung künftig einen Beitrag zu dem Versprechen leisten können, die Politik insgesamt nachhaltiger zu gestalten, indem sie auf Inkohärenzen und Zielkonflikte hinweisen. Denn in der DNS erkennt die Bundesregierung an, dass es zwischen einzelnen Zielen Spannungsfelder geben kann.

So wird zum Beispiel der Klimaschutz durch Wirtschaftswachstumsziele konterkariert. Es wird nicht ausgeführt, wie diese Zielkonflikte inhaltlich aufgelöst oder nicht-nachhaltige Praktiken beendet werden können. Wir würden es aus diesem Grund begrüßen, wenn – analog zur Nachhaltigkeitsstrategie – die Kohärenzberichte der Ressorts an den 17 SDG ausgerichtet werden und so mögliche Zielkonflikte aufdecken können. Die Bundesregierung sollte einen jährlichen Kohärenzbericht vorlegen, der im Bundestag diskutiert und von der Zivilgesellschaft kommentiert werden kann.

Wir hatten darüber hinaus einen „Nachhaltigkeits-TÜV“ gefordert. Durch ihn könnten neben Gesetzen auch politische Initiativen (wie Strategien und Pläne) frühzeitig und inhaltlich auf ihre Nachhaltigkeit – sowohl national als auch in Drittländern – überprüft werden. Dieser Vorschlag hat leider keinen Eingang in die Nachhaltigkeitsstrategie gefunden. Die Bundesregierung hat die Managementregeln im Hinblick auf die Stärkung der internationalen Dimension und der damit verknüpften Verantwortung Deutschlands unter der Maxime Leave no one behind („Niemanden zurücklassen“) erweitert. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Gesetzesfolgenabschätzung. Managementregeln allein ersetzen allerdings keine inhaltliche Prüfung, die auf Initiative des Bundestages durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung durchgeführt werden sollte und dessen Kompetenzen dafür erweitert werden müssen.

GESELLSCHAFTLICHE KLUFT SCHLIESSEN

Wir begrüßen ausdrücklich die Verankerung des Prinzips „Niemanden zurücklassen“ in der Neuauflage der Strategie, insbesondere in den Managementregeln. Dabei gehen wir davon aus, dass sich dieses Prinzip nicht nur auf den sozialen Zusammenhalt in Deutschland bezieht, sondern ebenfalls im globalen Kontext steht. Entsprechend erfreulich ist zunächst die Ankündigung, Daten zu Personen aufzuschlüsseln (wie nach Geschlecht, Alter, Behinderung), um „…bestehende Ungleichheiten zu erkennen und niemanden zurückzulassen.“ (S.40) Allerdings finden sich in der Strategie noch keine ausreichenden Maßnahmen, um die gesellschaftliche Kluft wirklich schließen zu können: Die Reduzierung sozialer Ungleichheiten wird zwar angestrebt, ist aber unzureichend hinterlegt. Wir brauchen dringend Strategien, um das gesellschaftliche Auseinanderdriften in Deutschland, Europa und weltweit zu stoppen. Nicht zuletzt in Zeiten von erstarkendem Nationalismus und Rechtspopulismus muss viel konkreter gezeigt werden, wie dies erreicht werden soll.

Auch die Bekämpfung weltweiter Ungleichheit und ein verantwortungsvoller und humaner Umgang mit Migrations- und Fluchtbewegungen zählen zu den Aufgaben Deutschlands. In der Nachhaltigkeitsstrategie sollte eine kritische Auseinandersetzung mit Deutschlands Beitrag in diesem Bereich formuliert werden. Richtig ist es, dass Fluchtursachen „…auch Ausdruck einer fehlenden nachhaltigen Entwicklung“ 4 sind. Falsch ist es, die Ursache alleine in fehlenden Politiken in den Herkunftsländern zu suchen. Falsch ist es ebenso, wenn in der Nachhaltigkeitsstrategie die aktuelle Flüchtlingspolitik als Beispiel für Nachhaltigkeit aufgeführt wird. Die Bundesregierung verfolgt aus unserer Sicht vielmehr eine Flüchtlingsabwehrpolitik. In der Strategie führt sie menschenrechtlich nicht tragbare Maßnahmen – wie das EU-Türkei-Abkommen – an. Das Ergebnis einer „…ganz erheblichen Reduzierung der Todesfälle im östlichen Mittelmeer“ ist fragwürdig in Anbetracht der Meldung des Flüchtlingswerks der VN, wonach im Mittelmeer nie mehr Schutzsuchende ums Leben kamen als 2016. Deutschland braucht dringend legale und gefahrenfreie Zugangswege, die tatsächlich auf die Rettung von Menschenleben abzielen und der humanitären Verantwortung Europas gerecht werden.

INDIKATOREN DURCHWACHSEN

Noch nie hat die Nachhaltigkeitsstrategie so viele nationale und internationale Indikatoren umfasst wie in der aktuellen Neuauflage. Die Erreichung der Ziele soll künftig an 69 Indikatoren, statt wie bisher an 38 gemessen werden. Allerdings sind dies immer noch zu wenig internationale und teilweise zu wenig aussagekräftige Indikatoren. Nur zehn von ihnen beziehen sich auf internationale Prozesse. Zudem sind diese vorwiegend im Ressort der Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt, was der geforderten Politikkohärenz entgegensteht. Wichtige Bereiche wie Armut, Ernährung und Gesundheit werden zudem nur mit nationalen Zielen und Indikatoren unterlegt, die globale Dimension dieser Problemfelder wird damit nicht erfasst. Außerdem wurden bei der Auswahl ökonomische Indikatoren bevorzugt, was die Gefahr birgt, dass soziale und ökologische Aspekte vernachlässigt werden.

Wir kritisieren, dass die Ziele und Indikatoren vielfach nicht ambitioniert genug oder ungeeignet sind. Dazu einige Beispiele: Im Bereich Armut und soziale Ungleichheit wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass für ein reiches Land wie Deutschland ein relativer Armutsbegriff angelegt werden muss, um die Armutsentwicklung betrachten zu können. Trotzdem wird der Indikator „Materielle Deprivation“ ausgewählt, der lediglich auf Selbsteinschätzungen beruht und nicht die tatsächliche finanzielle Situation der Haushalte darstellt. Davon abgesehen, dass der Indikator ungeeignet ist, erscheint das Ziel, den „…Anteil der Personen, die erheblich materiell depriviert sind, bis 2020 deutlich unter EU-28 Wert“ 7 zu halten, erschreckend ambitionslos, zumal dies bereits heute der Fall ist. Der neu eingeführte Indikator zur Messung der Bekämpfung der Kleinwaffenproliferation ist bereits im ersten Jahr seines Bestehens um fast das Doppelte seines Solls erfüllt und somit ebenso nicht ausreichend ambitioniert. Bei anderen Indikatoren, wie der zukunftsfähigen Energieversorgung bzw. dem Kohleausstieg sind keine Zeitziele hinterlegt, obwohl diese – wie beim Anteil ökologischer Landwirtschaft – in vorherigen Strategien gesetzt wurden. Genauso muss kritisiert werden, dass das 0,7-Prozent-Ziel (Anteil der öffentlichen Entwicklungsausgaben am Bruttonationaleinkommen) auf das Jahr 2030 verschoben wird. Im Fall der globalen Lieferketten ist die Auswahl des Indikators nicht nachvollziehbar. So stellt die Anzahl der im Textilbündnis mitarbeitenden Firmen kein ausreichendes Kriterium für Fortschritte bei der weltweiten Schaffung menschenwürdiger Arbeit dar. In diesen und zahlreichen anderen Punkten bringt die DNS die Umsetzung der SDG in und durch Deutschland nicht voran. Deswegen begrüßen wir, dass die Bundesregierung die Ziele und Indikatoren bereits 2018 reflektieren und weiterentwickeln will.

Insgesamt ist es schwer nachvollziehbar, wieso nicht alle SDG-Unterziele in die Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen wurden. Hier eine Auswahl zu treffen, entspricht nicht dem universellen Anspruch der SDG. Eine Prioritätensetzung kann sinnvoll sein, allerdings ist es unerlässlich, dass Zurückstellen von Unterzielen zu begründen bzw. müssten diese an anderer Stelle aufgegriffen werden.

Selbst wenn alle in der Nachhaltigkeitsstrategie festgelegten Ziele bis 2030 erreicht würden, wäre das nicht genug, um die SDG in und durch Deutschland umzusetzen. Die Bundesregierung wird deswegen nicht darauf verzichten können, einen übergeordneten Umsetzungsplan zu entwickeln, um den SDG gerecht zu werden.

PARTIZIPATION DEUTLICH VERBESSERT

Wir begrüßen ausdrücklich die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie im Bereich Partizipation der Zivilgesellschaft. Es liegt im Interesse der Zivilgesellschaft, dass sich das geplante Forum Nachhaltigkeit zu einer relevanten Plattform für Austausch und Dialog entwickelt. Die Beteiligung sollte inklusiv und entscheidungsrelevant gestaltet werden.

Das Vorhaben, Vertreter_innen einzelner gesellschaftlicher Gruppen „…systematisch und transparent an Vor- und Nachbereitung der Sitzungen des Staatssekretärsausschusses“8 zu beteiligen, begrüßen wir. Wir werden uns aktiv einbringen. Die Bundesregierung sollte bei der Beteiligung dem Anspruch der Agenda 2030 gerecht werden, niemanden zurückzulassen. Dazu muss sichergestellt werden, dass, repräsentiert durch ihre Verbände, Organisationen und Bündnisse, alle relevanten zivilgesellschaftlichen Gruppen vertreten sind und sie ihre Vertreter_innen jeweils selbst bestimmen können. Dazu gehören laut der Maxime Leave no one behind auch Menschen mit Behinderungen, Migrant_innen und sonstige benachteiligte Gruppen wie Alleinerziehende sowie Wohnungslose. Eine transparente und langfristige Planung ist für uns ein unverzichtbares Merkmal bedeutsamer Partizipation. Für uns ist es ausgesprochen wichtig, dass sich diese repräsentativ besetzte Gruppe vor den Sitzungen des Staatssekretärsausschusses über die Inhalte der Sitzungen beraten kann. Dazu müssen die Tagesordnungen vorab kommuniziert werden. Nach den Sitzungen sollte der Staatssekretärsausschuss der Zivilgesellschaft eine Rückmeldung zu den Inputs und Ergebnissen geben. Gerne wirken wir daran mit, die Rahmenbedingungen der Beteiligung zu gestalten.

Herausgeberkreis: AWO Bundesverband, Der Paritätische Gesamtverband, Deutscher Naturschutzring (DNR), Diakonie Deutschland, Forum Menschenrechte, Forum Umwelt und Entwicklung, Konsortium Ziviler Friedensdienst, Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO)
Redaktion: Marie-Luise Abshagen (Forum Umwelt und Entwicklung), Anke Scheid (VENRO)
Endredaktion: Steffen Heinzelmann
Download: http://venro.org/publikationen/?pubID=316#

Website der Bundesregierung dazu: https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Nachhaltigkeitsstrategie/_node.html
Kontakt:
Steffen Heinzelmann
Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe
deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V. (VENRO)
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