Zukunftsrat

Zukunftsrat zum Hamburger Nachhaltigkeitsbericht (VLR) 2023

Am 27. Juni hat der Hamburger Senat seinen ersten (!) Nachhaltigkeitsbericht vorgestellt. Der Zukunftsrat Hamburg freut sich, dass dieser nach einer frustrierend langen Wartezeit endlich vorliegt. Denn der Plan war ja, bis Ende 2018 die Entwicklung eines Monitoringsystems aus Zielen und Indikatoren sowie ein 2‑jähriges Berichtssystem zu entwickeln und einen Zwischenbericht vorzulegen.

Wir gratulieren der Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft zu diesem beachtlichen Erstlingswerk! Wir wissen um die koordinierende Rolle von BUKEA, wundern uns dennoch, dass von dem Ersten Bürgermeister keine Zeile in dem Werk zu finden ist.

Diese Stellungnahme bezieht sich nicht auf einzelne Nachhaltigkeitsziele, sondern auf das Gesamtwerk, das Indikatorensystem und den Prozess, sowie deren strukturellen Eigenschaften und einigen naheliegenden Schlussfolgerungen daraus.

Sie können unsere Stellungnahme direkt hier lesen oder auch als PDF herunterladen: 2023-09-17 Stellungnahme zum Nachhaltigkeitsbericht Hamburg 2023 (VLR)

Für alle Hamburgerinnen und Hamburger lesenswert und informativ

Der nun vorliegende 240-seitige Nachhaltigkeitsbericht ist ein beeindruckendes Werk, das verständlich in gut lesbarer Sprache abgefasst worden ist. Sein besonderer Wert liegt in der umfassenden, zusammenfassenden Information über die nachhaltigkeitsrelevanten Aktivitäten der Behörden, aber auch der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft Hamburgs. Ganz ohne Fokus auf das Zahlenwerk und unter Abzug des natürlichen Wunsches des Senats, die Stadt und die Behörden in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen, kann die Lektüre des Nachhaltigkeitsberichts allen empfohlen werden. Der ausführliche Textteil liefert einen guten Überblick über die vielseitigen Aktivitäten in der Stadt und enthält somit auch Anregungen zur Nachahmung und zur Vernetzung. Der informative Bericht steht allen als pdf-Dokument online im Zugriff.

Das VLR-Format gibt dem Bericht klare Struktur, die Indikatoren sind sowohl in einer separaten Übersicht als auch in den einzelnen Kapiteln übersichtlich dargestellt und erläutert. Sehr gut ist, dass das VLR-Format eine Darstellung aller 17 Nachhaltigkeitsziele erwartet, statt nur ausgewählter Schwerpunktziele, wie dies im Hamburger Umsetzungsplan der Agenda 2030 der Fall war. Dennoch hat natürlich auch Hamburg seine eigenen Schwerpunkte, deren Behandlung intensiver ausfällt.

Der Nachhaltigkeitsbericht versteht sich zwar nur als Bestandsaufnahme, vor allem, weil für die Indikatoren vielfach keine Zielwerte definiert worden sind. Für mehrere Indikatoren enthält die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie aber Zielwerte, die man zumindest zum Anhaltspunkt nehmen könnte. Auch eine Ampelkennzeichnung für die Entwicklung im Zeitverlauf, wie sie das Online-SDG-Portal nutzt, hätte willkommene Lesehilfe geleistet: ¡ verbessertw unverändert und o verschlechtert.

Monitoring des Hamburger Umsetzungsplans der Agenda 2030 so kaum möglich 

Die 105[1] Einzelindikatoren (mit Unterteilungen kommt man auf 116) sind sowohl in einer separaten Übersicht als auch anschaulich in den einzelnen SDG-Kapiteln dargestellt und in aller Regel gut erläutert. In 66 Fällen hat Hamburg für die einzelnen Ziele die SDG-Indikatoren für Kommunen vom Juli 2022[2] übernommen, in 50 Fällen eigene Indikatoren ausgewählt. Wer anhand des Berichts im VLR-Format nachsehen will, wie es um Hamburgs Performance in Bezug auf den Umsetzungsplan der Agenda 2030 von Juli 2017 steht, hat es allerdings trotz des groben Mappings der SDG und der Handlungsfelder (Schwerpunkte) auf Seite 21 schwer. Wir stellen gern fest, dass immerhin fast ein Viertel der ausgewiesenen Indikatoren auf Vorschläge der Zivilgesellschaft (Nachhaltigkeitsforum Hamburg und/oder Zukunftsrat Hamburg HEINZ) zurückgehen.

Nicht alle Indikatoren sind aussagekräftig für das jeweilige Ziel

Die kommunalen SDG-Indikatoren beziehen sich zwar alle auf die 17 Nachhaltigkeitsziele, aber deren Eignung, Validität[3], lässt noch zu wünschen übrig, d.h. sie sind nur mit Einschränkungen in der Lage, die Entwicklung eines (Teil-)Ziel inhaltlich zutreffend wiederzugeben. Bessere Indikatoren sind vielfach (noch) nicht verfügbar.

Die 50 von Hamburg selbst gewählten, verfügbaren und in anderen Berichten (wie z.B. dem Geschäftsbericht, der Kriminalstatistik und der Hamburger Gleichstellungsmonitor) veröffentlichten eigenen Indikatoren erhöhen in den meisten Fällen die Aussagekraft des jeweiligen Indikatorensatzes bei mehreren SDGs (v. a. 3 — 7 und 9). Andererseits hätten einige der nicht herangezogenen Kommunalindikatoren an mehreren Stellen die Gesamtaussagekraft spürbar erhöht (z. B. 6–7, 10–12, 16–17).

Manchmal stellt sich die Frage, warum der kommunale Indikator nicht benutzt wurde wie vorgegeben, obwohl die Information vorliegt und an anderer Stelle veröffentlicht wird. In anderen Fällen wurde die vorgegebene Maßeinheit nicht befolgt, obwohl sie offensichtlich mit den vorliegenden Daten hätte benutzt werden können. Das fällt besonders dort negativ auf, wo absolute Zahlen statt der vorgegebenen Maßeinheiten mit einer Bezugsgröße vorgegeben sind, aber nur absolute Zahlen im Bericht vorkommen (z.B. SDG 3 Treibhausgasemissionen). Auch in anderen Fällen haben absolute Zahlen nur einen fragwürdigen Aussagewert, es sei denn man ist Experte/Expertin der Materie. So z.B. bei Anzahl Studienanfänger:innengeförderte Mietwohnungsneubauten mit Mietpreis- und BelegungsbindungVeloroutennetz in km etcEinige Indikatoren drücken nicht das vom SDG-Indikator Geforderte aus. So ist z.B. bei SDG 7 der Anteil erneuerbarer Energien an Stromerzeugung kW/Einwohner gefordert, im VLR wird jedoch der Anteil erneuerbarer Energien bezogen auf den Energieverbrauch (%) wiedergegeben. Letzterer ist zwar relevant, hochinteressant (und erschreckend), der geforderte Wert würde aber diesen Wert sinnvoll ergänzen.

Dem Bruttoinlandsprodukt in SDG 8 Menschenwürdige Arbeit und Wachstum müssen dringend ergänzende Indikatoren beigestellt werden, die über die Nachhaltigkeit eines friedlichen Sozialstaates etwas aussagen. Die Defizite des BIP sind so gravierend, dass es alleinstehend nicht mehr veröffentlicht werden sollte. Die SDG-Indikatoren für Kommunen sehen den Gini-Koeffizienten vor.

Wir empfehlen auch, dass der Senat einige SDG-Ziele, deren Gesamtaussage sich aus vielen Bestandteilen zusammensetzt, in einem Index zusammenfasst, der die Zielerreichung in einem Indikator wiedergibt. Der Zugriff auf die Bestandteile des Index sollte aber erhalten bleiben, um nachvollziehen zu können, wo der dringendste Handlungsbedarf besteht. Denn einige Teilziele wirken sich schließlich auch auf das Gesamtbild mehrerer SDG-Ziele aus. Auch dies soll darstellbar sein.

Hamburg ist Kommune und Land

Es ist legitim als Stadtstaat, sich auch als Kommune darzustellen. Aber ein Nachhaltigkeitsbericht, der nur auf die kommunalen Aspekte eingeht, und die spezifische Landesverantwortung einfach ausblendet oder nur „qualitativ“ abhandelt, ist unvollständig, wenn nicht sogar irreführend. Hamburg muss seiner Rolle und Verantwortung bei Nachhaltigkeit auch als Bundesland gerecht werden und den Bericht mit entsprechenden Indikatoren versehen – ggf. gesondert ausweisen oder in einem separaten Nachhaltigkeitsbericht für das Bundesland veröffentlichen (sicherlich die schlechtere Variante).

Hamburg mit seinen 1,9 Millionen Menschen ist die größte Stadt, die sich der Methode des VLR und der kommunalen Nachhaltigkeitsindikatoren bedient. Er „konkurriert“ und vergleicht sich und wird verglichen mit Kommunen ab 5.000 Einwohnern, für die die kommunalen Nachhaltigkeitsindikatoren entwickelt wurden. Hamburg sollte sich ambitioniertere Ziele und anspruchsvollere Methoden für Monitoring und Berichterstattung vornehmen als kleinen Kommunen zumutbar ist.

Hamburg muss sich ganzheitlich der Nachhaltigkeit stellen mit all seinen Verantwortlichkeiten, sei es allein oder in Konkurrenz mit Bund. Bereiche wie Gesetzgebung, effiziente Institutionen wie Polizei & Justiz, Verfassungsschutz, Katastrophenschutz, Feuerwehr, Gesundheitssystem, Digitalisierung, Presserecht/-freiheit, die Rolle des Hafens bei vielen nachhaltigkeitsrelevanten Aspekten, um nur einige zu nennen. Dieses Länderreporting sollte idealerweise mit anderen Bundesländern einheitlich erfolgen, aber darf nicht daran scheitern, dass alle nicht sofort mitmachen. Gerade als Stadtstaat kann Hamburg vorangehen.

Wir kritisieren auch, dass der Nachhaltigkeitsbericht keine Indikatoren enthält, die die Wahrnehmung der Hamburger Bevölkerung über die Nachhaltigkeitsanstrengungen enthält. So bleibt der Bericht weitestgehend eine Sicht des Senats auf die Entwicklung – eine unvollständige Sicht.

Es mangelt an Orientierung für das große Ganze

Je länger man liest, desto deutlicher wird, dass für Hamburg die Strategie fehlt, dass es sich noch um eine lange Liste weitgehend isolierter Einzelprogramme der Ressorts handelt. Es wird nicht klar, welches Gesamtkonzept verfolgt wird und welches die kritischen Erfolgsfaktoren insbesondere in den zentralen Transformationsfeldern sind, die kurz‑, mittel- und langfristig das Ganze voranbringen sollen.

Gerade weil das VLR-Format auf alle 17 Nachhaltigkeitsziele eingeht, sollte der Nachhaltigkeitsbericht auch klare Prioritäten ausweisen, gerade dort, wo die Transformation die meisten Herausforderungen stellt. Dazu zählen ohne Zweifel der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen wie z.B. Begrenzung der Erderwärmung, Anpassung an den Klimawandel, Schutz der Biodiversität, Wasserversorgung aber auch Bildung für Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, nachhaltige Innovation, Teilhabe und Good Governance. Die planetaren Grenzen und die sozialen Fundamente der Transformation hat Kate Raworth mit ihrem Doughnut-Modell beispielhaft veranschaulicht und der Zukunftsrat Hamburg hat exemplarisch gezeigt, dass diese Darstellung auch für Hamburg möglich ist. Eine Weiterentwicklung des Doughnut-Modells berücksichtigt auch die Governance-Aspekte im Sinne von ESG.

Prozess & Ausblick

Der Zukunftsrat begrüßt diesen Bericht als einen ersten Schritt, spricht aber gleichzeitig die dringliche Aufforderung an den Senat aus, dass ab sofort mehr Engagement, Ressourcen und mehr Ambition für die Erarbeitung einer kohärenten Nachhaltigkeitsstrategie, der kurz‑, mittel- und langfristigen Ziele (ja, einige bedürfen auch kurzfristiger Ziele!), der Verantwortlichkeiten – ggf. neue ressortübergreifende Strukturen — sowie eines robusten Monitoring- und Berichtssystems eingesetzt werden.

Wir schlagen dem Senat vor, unverzüglich ein Digitalisierungsprojekt aufzusetzen, das auf die Vielzahl der als Open Data verfügbaren Quellen zugreift und daraus den nächsten Nachhaltigkeitsbericht erzeugt. So könnte der Bericht zwar auf der Frontseite die kommunalen SDG-Indikatoren im VLR-Format ausweisen, aber gleichzeitig Zugang auf mehr, aktuellere, relevantere und validere Information ermöglichen, sobald diese Information als Open Data verfügbar ist. Ein VLR-Bericht kann zwar stichtagsbezogen produziert werden, aber die Entwicklung der Indikatoren ist kontinuierlich, und so sollte auch das Gesamtbild kontinuierlich und möglichst zeitnah nicht nur in der VLR-Struktur, sondern auch in alternativen Strukturen erstellbar sein.

Wir kritisieren, dass dieser Bericht weitgehend behördenintern und ohne Möglichkeit für die Zivilgesellschaft, daran konkret mitzuwirken, entstanden ist und – obwohl lang erwartet – doch als eine Überraschung kam. Wir verweisen hier auf die Erklärung der Freien und Hansestadt Hamburg, sich für die Ziele der Open Government Partnership (OGP)[4] einzusetzen, die wir sehr begrüßen. Dort wird größte Betonung auf Kokreation und Kollaboration mit der Zivilgesellschaft bei Entwicklung und Umsetzung von Regierungsplänen. Das erwarten wir, allerdings in einer strukturierten und institutionalisierten Art und in einem weitaus größeren Umfang von allen Behörden. BUKEA könnte hier als koordinierende Stelle für Nachhaltigkeitsaktivitäten eine proaktive Rolle einnehmen. Hamburg steckt voller fähiger Bürgerinnen und Bürger, die nichts lieber tun würden, als sich zur Erarbeitung der Lösungsansätze und Umsetzung der Maßnahmen aktiv einzubringen. Gleichzeitig muss sich die Stadt auch aktiv um die Einbeziehung von Gruppen bemühen, die sie bisher nicht oder nur unzureichend erreicht. Die Entwicklung des nächsten Nachhaltigkeitsberichtes sollte von vornherein kokreativ eingeplant werden.

Wir schaffen es nur zusammen!

[1] Von den in der Indikatorenübersicht aufgeführten 107 Indikatoren, fehlt einer (Straftaten) und einer wird an zwei Stellen identisch aufgeführt (Phosphor in Fließgewässern).

[2] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/sdg-indikatoren-fuer-kommunen-all‑1

[3] Mit der Validität wird die inhaltliche Eignung eines Indikators für das Monitoring eines spezifischen, im jeweiligen SDG-Unterziel oder ‑Teilziel genannten Sachverhalts angegeben.

[4] Z.B. offene, transparente, effiziente und rechenschaftspflichtige Verwaltung; proaktive Bereitstellung hochwertiger Informationen für Weiterverwendung für die Öffentlichkeit; Vertiefung der Beteiligung der Öffentlichkeit an der Entwicklung, Überwachung und Bewertung von Regierungsaktivitäten

Quelle: https://www.zukunftsrat.de/stellungnahme-zum-hamburger-nachhaltigkeitsbericht-vlr-2023/